Anfang September sorgte Birgit Rydlewski für Aufregung. Die Abgeordnete der Piratenpartei in Nordrhein-Westfalen ließ die ganze Welt per Twitter an ihren sexuellen Nöten teilhaben. Da ging es um One-Night-Stands, gerissene Kondome und die Angst danach. Wenig später konnte die Politikerin ihren Fans dann auch Entwarnung geben: „Allen einen lieben Dank, die wegen des gerissenen Kondoms mitgezittert haben: Alle Tests negativ! (Also HIV, Hep. B, Hep. C).“ Im Anschluss gab’s Dr.-Sommer-mäßig sogar noch gut gemeinte Ratschläge für die treue Gefolgschaft: „Liebe Kinder: nicht nachmachen! Nicht mit irgendwelchen Typen ins Bett gehen, die man nicht einschätzen kann.“
Wollen wir sowas wissen? Experten fingen an zu diskutieren, was Politiker lieber privat halten sollten. Der wachsenden Begeisterung unter PR-Leuten über die Möglichkeiten von Social Media konnte das nichts anhaben.
Die Begeisterung nutzt nicht zuletzt Twitter. Der Kurznachrichtendienst ist der „heiße Scheiß“ unter den Wahlkampfstrategen und immer mehr Politiker legen sich ein Konto beim Sofortnachrichtendienst zu. Aber was haben uns die Abgeordneten im Bundestag zu sagen?
Antwort kann bundestwitter.de geben. Die Seite sammelt alle Botschaften der twitternden Volksvertreter. Der Berliner Medieninformatik-Student Thomas Puppe stellte sie Anfang Oktober ins Netz.
Insgesamt nutzen 244 der derzeit 620 Abgeordneten des Bundestags den Kurznachrichtendienst. Der Besitz eines Kontos heißt aber nicht, dass die Inhaber auch aktiv sind. Die fleißigsten Nachrichtentipper sind die Politiker aus den Reihen der Opposition. Bei der FDP sind zwar 61 Prozent der Abgeordneten angemeldet, ein Drittel aller Konten bleibt allerdings über Wochen stumm.
„Seit 06.00 im ICE aus der schönsten Stadt der Welt gen Hauptstadt“ – Zu Beginn einer neuen Sitzungswoche in Berlin läßt jeder zweite twitternde Abgeordnete, wie auch Johannes Kahrs (SPD), die Welt wissen, dass der Heimatort die vermeintlich schönste Stadt Deutschlands ist. Viele stimmen jede Woche das gleiche Lied an – der Wahlkreis freut sich, der Rest schaltet auf Durchzug.
Abgeordnete verkünden im Minutentakt, wie fleißig sie doch arbeiten. Wenn sie keiner lobt, dann müssen sie das halt per Twitter selbst tun. Petra Sitte (Die Linke) ist stolz auf ihre Disziplin: „Wollte nur mal mitteilen, dass mein Zug 5.38 Uhr (mit mir!) soeben losgefahren ist. Disziplinübung zum Wochenanfang.“ Tobias Lindner (Grüne) berichtet von seinem Arbeitspensum: „Bereits 3 Besprechungen erfolgreich hinter mich und Haushaltsanträge zum Bildungsetat auf den Weg gebracht. Jetzt gleich AG Wirtschaft.“ Dorothee Bär (CSU) reimt: „Noch nicht mal acht — und schon alle Mappen gemacht. Hihi. Und was sich reimt, ist gut.“
Viel anderes erzählen kann man mit der Platzbegrenzung auf 140 Zeichen sowieso nicht. Aber immerhin wissen die Lesenden hinterher, welche Klientel und welche Arbeitsbereiche die Absender bedienen. Christian Lindner (FDP) dokumentiert seine Treffen mit Unternehmern, Erwin Rüddel (CDU) seine Anwesenheit bei der Wahl des Schützenkönigs: „Volles Schützenhaus in Leubsdorf.“
Bei vielen Kurznachrichten der Politiker bleibt jedoch die Frage offen: Was sollte da bloß mitgeteilt werden? Uwe Schummers (CDU) berichtet: „Aufbruch zum Berliner Büro. Sitzung der Fachgruppe Bildung und Forschung der Union. Heute bringe ich 5 Praktikanten mit.“ – Also liebe Kollegen, macht ein bisschen Platz am Sitzungstisch?! Oder ist die Anzahl der Praktikanten so eine Art Symbol für den Status eines Politikers?
Neben seiner Funktion als Übermittler der seltsamsten Informationen, deren Adressaten vielleicht die Politiker selbst sind, ist Twitter auch ein Kanal für moralische Empörung. Wenn TV-Moderatoren an einer Hostesse rumgrabschen, schreit die Fraktion der Grünen: „Sexistische Kackscheisse.“
Am liebsten aber werden politische Gegner oder Partner gedisst. „FDP-Rösler redet und wieder suche ich die Stelle, bei der ich Schmerzensgeld beantragen kann.“ motzt die Grüne Beate Müller-Gemmeke. Dorothee Bär, CSU, trollt mit: „Bei manchen Aussagen von Philipp Rösler habe ich das Gefühl, daß er den Schuß nicht gehört hat.“ Twitter funktioniert wie ein Live-Ticker aus dem Bundestag: Politiker äußern hier schnell und flapsig Anfeindungen und Provokationen gegen ihre politischen Gegner, die wahrscheinlich in richtigen Interviews so nie gesagt würden. Ob Politik damit glaubwürdiger wird? Betrachtet man die meisten Botschaften, so zählt allein die Präsenz auf sozialen Kanälen und der Vorsprung im Rennen um die Aufmerksamkeit der Internet-Nutzer. Da sind weniger politsche Informationen oder Argumente zu erwarten, sondern vielmehr Äußerungen auf Stammtisch-Niveau. Das kann, wie die Lektüre der Bild-Zeitung, durchaus kurzweilig und skurril sein – näher zu den Wählenden bringt’s die Parlamentarier nicht.