Nach einem Jahr Pause hat das Berlin Festival am letzten Wochenende einen gelungenen Neustart hingelegt. Vor der einzigartigen Kulisse des Flughafen Tempelhof spielte sich ein gelungender Stilmix ab. Schon das angekündigte Line-Up – mit Peter Doherty, Zoot Woman, Jarvis Cocker und Deichkind – weckte große Spannung auf die zwei Tage Stadtfestival. Zu den vielversprechendsten Newcomern zählten Health und Micachu & The Shapes.
Wie zu erwarten war, gibt der Flughafen eine Wahnsinnskulisse ab. Der Festival-Check-In erfolgt an den alten Schaltern der Fluggesellschaften und auf den Departure-Boards werden die Spielzeiten der einzelnen Artists angezeigt. Auf dem Raum zwischen Halle und Flughafenwiese (durch einen Zaun abgetrennt, an dem in regelmäßigen Abständen der Sicherheitsdienst patroullierte) gibt es eine Menge Platz für das übersichtliche, aber abwechslungsreiche Festivalgelände mit Imbiss-Buden, Promotionständen und Merchandising.
Eine nette Abwechslung bildet eine Körper-Ikebana-Lounge, in der sich Festival-Besucher von androgynem Personal in lebende Nu-Rave-Feldblumen-Gestecke verwandeln lassen können. In all dem Trubel ist auch die Second Stage zu finden, die am Freitag vor noch lichten Reihen von Disco-Diva Frankmusik eröffnet wird, den offenbar einige noch von seinem Auftritt beim Warm-Up im Club Berlin in guter Erinnerung haben.
Die Mainstage war wegen des zu befürchtenden Lärmärgers kurzfristig in die riesige Wartungshalle umgezogen. Schön für die Anwohner, nicht so toll fürs Publikum, denn die PA kommt mit dem Raum überhaupt nicht klar, was das Vergnügen an einigen Auftritten arg trübt. Während dieser Umstand der Soundqualität der DJ-Sets (wie z.B. dem von Digitalism) nichts anhaben kann, stehen Bands wie die Thermals und Oneida bis zu den Hüften im Geräusch-Sumpf. Schade.
Auf der Main Stage beginnt der Freitag mit den Crystal Antlers, Dear Reader, These New Puritans und Saint Etienne psychedelisch bis besinnlich. Letztere dürften, mit einer in eine Federboa gehüllte Sarah Cracknell, für viele das erste Highlight des Abends gewesen sein und verkörperten mit ihrer Wanderung zwischen Indie-Pop, Dance und House, die anspruchsvolle Seite des digital-analogen Spektrums des Festivals (mit Deichkind am anderen Ende der Skala).
Als einziger HipHop/Rap-Act des Wochenendes geht Dendemann an den Start, aber der war ja noch nie ein Scheuklappenträger und kommt mit kompletter Live-Band im indie-kompatiblen Jeans-Outfit auf die Bühne. Von seinen akustischen Entertainmentqualitäten muss er leider viel einbüßen, denn man versteht kaum ein Wort von dem, was Dende da von sich gibt. Anschließend: Start der endlosen Tanznacht mit Sets von Moderat und Peaches.
Was vergessen? Ach ja, Peter Doherty war tatsächlich auch da. Trotz verpasstem Flug stand das Käsegesicht pünktlich auf der Bühne; für alle Fälle umrahmt von zwei Tänzerinnen, die von Spielfehlern ablenken und sicher auch die neuesten Reanimationstricks drauf haben. Geht aber alles gut. Über eine Stunde führt Doherty sowohl Songs von seinem ersten Solo-Album und alte Libertines- und Babyshambles-Kracher vor und zeigt Tricks wie plötzliches sehr-langsam-spielen. Unglaublich.
Unterdessen kann man Bodi Bill, Junior Boys und Who Made Who verpassen, die sich auf der Second Stage abrackern, während im Hintergrund ein alter Rosinenbomber leise vibriert. Besonders überzeugend sind die Berliner Bodi Bill, die ihre kosmopolitische Elektro/Folk/Soul-Maschine rund laufen lassen.
Die Party geht bis zum nächsten Morgen weiter, nicht nur vor den Bühnen, sondern auch in zwei Clubs im Flughafengebäude und rund um eine mobile Disco auf dem Rand zum Rollfeld.
Der Samstag soll mit einem noch heißeren Line-Up aufwarten. Es beginnt mit I Might Be Wrong. Nicht ganz so extrovertiert wie Radiohead, von deren Live-Album-Titel sie ihren Namen haben, aber ein optimaler Einstieg in den zweiten Festival-Tag, für alle, denen der erste noch in den Knochen steckt. In Kürze erscheint auf sinnbus das Debüt-Album der Berliner, deren Indietronic an Bands wie Lali Puna geschult ist.
Es geht gitarrenlastig weiter: Während auf der Hauptbühne die Kilians, Oneida (psychedelisch-bluesiger Noise-Rock mit großem Unterhaltungswert) und The Thermals (die warmherzige und unverschämt vital ausschauende Indie-Rock-Familie aus Portland) spielen, gibt es nebenan die formal etwas gewagteren Töne.
Health erinnern an eine Gruppe Schamanen, beschwörender Gesang wechselt sich mit Growls ab, die Beats sind tribalistisch, die sägenden, klirrenden und schneidenden Gitarren klar abgesetzt. Ihr Gitarrist und Perkussionist gibt mit wehendem Schopf einige sehr eindrucksvolle Tanzeinlagen. Mitte September erscheint endlich das neue Album „Get Color“. Es folgen Micachu & The Shapes, deren queerer Lofi-Fi-Charme zwar sicher besser im kleineren Kreis auf der Wiese aufgehoben wäre, die aber sicher trotzdem mit einer Menge neuer Myspace-Kumpane rechnen können.
Das geschmackssicherste Doppelpack des Festivals sind Zoot Woman und Jarvis Cocker. Der cleane Sound ersterer verträgt sich ausgesprochen gut mit der miesen Akustik der Halle. Zoot Woman spielen auch Songs ihres am 21. August erscheinenden neuen Albums „Things Are What They Used To Be“. Der Titel ist Programm und damit erfüllt die ausgesprochen gut geföhnte Band alle Erwartungen. Jarvis Cocker, der mit seiner Ex-Band Pulp Geschichte in Sachen Britpop schrieb, stellt ebenfalls sein neues Album vor, das auf den Namen „Further Complications“ hört und dessen etwas biedere Live-Darbietung durch Cockers sexuell bis zum Bersten aufgeladene Performance und seine unglaublich charmanten Ansagen aufgewogen wird. So viele feuchte Augenpaare wurden bei keinem anderen Auftrit des Wochenendes gezählt.
And now for something completely different – they put the F(reak) in Festival: Zwei Freakshows direkt im Anschluss aneinander. Zuerst die Berliner Bonaparte: Menschen, Tiere, Sensationen. Statt Feuerspucken gibt’s diesmal zwar nur Laserkanonen, aber Kissenschlacht im String-Tanga und Wolfsgeheul-Wettbewerb zwischen Imperator und Publikum sind Entschädigung genug.
Tingeltangel Nr. 2 sind natürlich Deichkind, deren Verkleidungskiste noch etwas größer ist als die von Bonaparte. Zu den Requisiten der Show, an der zehn besoffene Choreographen mehrere Monate gefeilt haben dürften, gehören unter anderem eine Pyramide, Trampoline und riesige Deichkind-Logos im Dead Kenndys-Design. An der Formel für floureszierendes Kunstblut wird noch gearbeitet.
Parallel zu Deichkind hat man mit viel Voraussicht eine Aufbewahrungsstation für die älteren Festivalbesucher eingerichtet. Auf der kleinen Bühne legt die House-Intelligentia von Whirlpool Productions (Köhncke, Nieswandt und Eric D. Clark) auf. Ein ausgedehnter Mix ihres Hits „From Disco To Disco“ fehlt natürlich auch nicht. Danach geht es übergangslos mit dem minimalistischen Set des sich tief über die Geräte beugenden Hot-Chip-Hünen Joe Goddard weiter. Hier in der frischen Luft wird genauso exzessiv getanzt wie im Gebäude, wo auf dem weniger gut belüfteten Flur-Floor diverse Residents aus Berliner Clubs auflegen.
Die größte Party steigt aber im Hangar beim Digitalism-Set. Die knarzigen Mixe der Hamburger gehen rein körperlich an die Schmerzgrenze und dulden keinen Widerspruch. Bis fünf Uhr früh wird in der riesigen Halle durchgetanzt, dananch ragt die Nacht auf den kleineren Floors weit bis in den Sonntag.
Von Unwägbarkeiten wie dem spontanen Umzug der großen Bühne (mit den erwähnten Konsequenzen) abgesehen hat das Berlin Festival seinen Standpunkt klar gemacht und seine Daseinsberechtigung bestätigt. Mitten in der Stadt, wetterfest und ein gelungener Stilmix. Durch die bunte Mischung an Artists wirkte das Wochenende zwar etwas konturlos, bot dafür aber eine Abwechslung, die man sonst eben nur von Riesenspektakeln kennt.